Hallo liebe Freundinnen und Freunde!
Ich möchte Euch heute eine wichtige Frage stellen, vielleicht eine der wichtigsten. Was glaubt Ihr, ist ein guter Mensch?
Es ist nicht einfach, diese Frage ideologiefrei zu beantworten – viel leichter fällt es uns, schlechte Menschen zu definieren, deren Taten uns täglich in einer Flut von Meldungen erreichen: Kriege, Terror, Mord, Missbrauch und Gewalt gegen Kinder, Vergewaltigungen, Grausamkeiten gegen Tiere, menschenverursachte Umweltschäden und vieles mehr.
Warum sind wir nicht neugierig auf das, was einen guten Menschen ausmacht? Wie wird man überhaupt ein guter Mensch? Oder sind wir alle gute Menschen und wissen es nur nicht?
Manchmal glaube ich, dass wir vielfach schon Opfer unseres eigenen Narzissmus, unserer Schadenfreude, unserer Gier und unserer Überforderung im globalen Multitasking sind. Wir stempeln andere zu Opfern, quälen übergewichtige Menschen vor einem Millionenpublikum, erniedrigen in Fernsehshows Promis zu Kadaverfleisch und Würmer fressenden Karikaturen.
Sollten wir nicht lieber die eigene Würde bewahren und darüber nachdenken, wie wir als möglichst gute Menschen eine glückliche Zukunft für unsere Kinder gestalten können? Im Folgenden werde ich versuchen, Euch auf dem Weg dorthin zu begleiten.
Ich bin Luk Geiger, Familienvater und Arzt. Promoviert habe ich in Psychiatrie, geforscht über Endorphine unter extremen Belastungsbedingen beim Klettern und Skifliegen, war Bergführerausbilder, Bergwachtarzt, und Mannschaftsarzt im DSV und OSP München. Ich habe Filme über übergewichtige Kinder und die Belastung beim extremen Sportklettern gemacht. Weiter verfasste ich Bücher über die menschliche Physiologie unter Belastung, Trainingslehre und Kinderbücher zum besseren Körperverständnis. Aus all den Erfahrungen mit Menschen, kranken, wie gesunden leite ich die Berechtigung für mein folgendes Statement ab.

 

Guter Mensch in der Welt von Morgen
- zwischen Geborgenheit und Neugier –

Wer möchte nicht, dass seine Kinder sich zu guten Menschen entwickeln oder gar selbst ein guter Mensch sein?

 

Guter Mensch
Es fällt uns fühlbar schwer, die Eigenschaften eines guten Menschen zu definieren, da eigene und kulturelle Erfahrungen das Bild eines guten Menschen formen können. Ist er gut, weil er religiös ist, sich an Moral und Gesetz hält, anderen hilft oder einfach nur nett ist? Der Begriff „Gutmensch" karikiert einen notorisch betroffenen, die moralische Keule schwingenden Menschen und wurde 2015 sogar zum Unwort des Jahres gewählt. Er kann es wohl nicht sein. Ebenso wenig „der gute Mensch von Sezuan", wie ihn Bertold Brecht im gleichnamigen Theaterstück als Parabel darstellt. Obwohl von drei Göttern als einzig guter Mensch ausgewählt, zeigt das Schicksal der Prostituierten Shen Te die Unmöglichkeit, in einer Welt von Not und Elend gut zu sein, so dass sich sogar die Götter resignierend zurückziehen. Auch Paulus versucht im 1. Korintherbrief das Gute im Menschen zu fordern, wenn er davon spricht, dass alles möglich, aber nicht alles zuträglich ist („Panta moi exestin, all ou panta sumpherei"). Ähnlich formuliert es Immanuel Kant aus philosophischer Sicht: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!" Als kategorischer Imperativ viel zitiert, nähert sich diese Sicht der Charakterisierung eines guten Menschen, bleibt aber zu abstrakt, um das emotionale Verständnis der Menschen zu erreichen. Auch die Idee, dass Gerechtigkeit das dominierende Merkmal eines guten Menschen sei, hält einer objektiven Beurteilung nicht stand. Zu viele Einflussgrößen, wie Gesetze, Religionen, Kulturen und eigenes Erleben lassen keine Übereinstimmung von gerecht und gut zu (s.a. Amartya Sen, „Die Idee der Gerechtigkeit").

 

Was aber ist dann ein guter Mensch?
Ein guter Mensch zeichnet sich durch einen würdevollen Umgang mit Menschen, Tieren und der Natur aus. Wer die Würde anderer verletzt, verliert selbst an Würde (Gerald Hüther, „Würde", 2018).
Als 1949 noch unter dem Eindruck des menschenverachtenden Hitlerregimes und 2. Weltkriegs die Würde des Menschen als unantastbar in Artikel 1 der Verfassung verankert wurde, ahnte man noch nicht, dass es dafür nach den neuesten Erkenntnissen der Neurobiologie ein substantielles Korrelat im Gehirn gibt, das nach Hüther als innerer Kompass fungiert. Wohin die Nadel dieses „Würdekompass" ausschlägt, ist nicht genetisch determiniert, sondern unterliegt lebenslangen, bereits im Mutterleib beginnenden Lernprozessen mit hoher Sensibilität im Kita-Alter (2.-3. LJ) und der Pubertät (12.-18.LJ). Im frühen Kindesalter sind spezifische Hirnzellen, die empathiestiftenden Spiegelneuronen, im Pubertätsalter die ausreifenden Kontrollsysteme der vorderen Hirnwindungen (präfrontaler Kortex) dafür verantwortlich. Doch Achtung: das Ergebnis hängt von der Intensität und der Güte der Lerninhalte ab. Die Spiegelneuronen wollen über nahe Bezugspersonen gefordert werden. Unterforderung durch zu wenig Nähe geliebter Personen schadet der Empathieentwicklung. Hier gilt: „use it or lose it!" Eine positive Empathieentwicklung, das Mitfühlen mit Mensch, Tier und Natur ist der wichtigste Baustein zum Erreichen menschlicher Würde und zeichnet einen guten Menschen aus. Dalai Lama bezeichnet sie sogar als globale Notwendigkeit („Empathie", 2016)
Die Ausreifung der neuronalen Verbindungen (Nervenfasern) vom und zum präfrontalen Kortex unterliegt einer hohen Komplexität. Reizen aus Emotions-, Trieb- und Motivationszentren (Limbisches System) muss eine kontrollierende Antwort gegeben werden. Äußere Einflussgrößen (Umfeld, Umwelt) müssen beurteilt, erwidert und gespeichert werden. So lernen wir! Inneres und äußeres Lernen bestimmt damit die Qualität von Würde oder Würdelosigkeit. Persönlichkeit, Gewissen und Moral haben ihren Sitz im präfrontalen Kortex.

 

Der gute Mensch – ein Don Quijote der Neuzeit?
Betrachten wir die gegenwärtige Welt, stellt sich die Frage: Können wir und unsere Kinder überhaupt noch gute Menschen sein oder werden oder kämpfen wir auf der Suche nach unserer Würde gegen Windmühlen, wo gar keine sind? – Ja, lassen wir uns auf dieses spannende Abenteuer ein, die Zeit drängt! Die Erkenntnisse der Neurobiologie, dass der Mensch ein Leben lang lernt und je nach Wissensstand auch, „umlernen" kann, machen uns Mut. Voraussetzungen hierfür sind Geborgenheit und Freiraum für den im Menschen innewohnenden Forschertrieb, etwas Neues zu schaffen. Diese nur scheinbare Ambivalenz ist der Motor für eine das Leben befeuernde individuelle und gesellschaftliche Entwicklung. Ernüchternd an diesen fundamentalen neurobiologisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen aber ist, dass sie von Politikern, Wirtschaftlern, Technikern, Kirchen, Soziologen, ja sogar Pädagogen, kaum wahrgenommen werden (wollen? Weil sie nicht in ihr Konzept passen). Bedenklich stimmt auch, dass Lernen immer mehr auf kognitive Inhalte reduziert und empathische Bildung vernachlässigt wird. Die Kurve technischen, insbesondere digitalen Fortschritts steigt nahezu exponentiell an, nichts scheint mehr unmöglich. In vielen, vorwiegend asiatischen Ländern werden die Kinder zu Pisa-Kadetten degradiert, denen die Freude am Spielen und eigenen Entdecken verloren geht. Freude und kindliches Glück darf sich nicht nur am technischen und wirtschaftlichen Fortschritt orientieren. Die Möglichkeiten der Digitalisierung, des Internets, der künstlichen Intelligenz und Robotik scheinen unbegrenzt. Die Grenzen zwischen realer und virtueller Wirklichkeit werden immer unschärfer, einseitige emotionale Bindungen an die künstliche Intelligenz werfen nie gekannte psychologische Probleme auf (Anthropomorphismus). Je nach Sichtweise können künstliche Intelligenz und Roboter auch wertvolle Hilfen sein, aber nie Menschen. Sie bewältigen unermüdlich unvorstellbare Datenmengen und verrichten fehlerlos Fließbandarbeiten. In der Medizin sind sie gar nicht mehr wegzudenken. Sie lassen aufwändige diagnostische Verfahren zu, helfen bei Operationen, imitieren und steuern neurologische Abläufe, optimieren die Rehabilitation mittels bionischer Prothesen und Exoskeletten u.v.m. Auch autonomes Fahren ist eine Domäne künstlicher Intelligenz. Ob sie jemals die zielgenauen Reisen einer Meeresschildkröte oder von Zugvögeln über tausende von Kilometern bei geringstem Energieaufwand erreichen wird, bleibt ein Mysterium. – Unbehagen, wenn nicht gar Angst, bereitet vielen Menschen heute schon die Vorstellung einer nicht mehr beherrschbaren Verselbstständigung und Macht der künstlichen Intelligenz und ihr Missbrauch durch Dritte. Programme aus Algorithmen und neuronalen Netzwerken könnten dann selbständig denken oder gar ein Bewusstsein entwickeln. Intelligente Assistenten (Siri, Alexa, Cortana usw.) in unseren Haushalten und Handys werden bald mehr über uns wissen, als wir selbst – können wir ihnen noch vertrauen? Science-Fiction Geschichten über „Golem" und „Hal 9000", und Filme von „Skynet" und „Terminatoren" schaffen eine Art gruselige Affinität zu Roboterwesen, die die menschliche Existenz bedrohen. Inzwischen haben militärische Kampfroboter, Drohnen, Weltraumroboter, Schwarmroboter und sich eigenständig multiplizierende Roboter die Realitätsschwelle erreicht und die Ängste vor künstlicher Intelligenz verstärkt.
Nahezu unbemerkt hat auch das weltumfassende Internet mit seinem Verbund von Rechnernetzwerken, vergleichbar den neuronalen Netzwerken der künstlichen Intelligenz, zu einer Art „Schwarmintelligenz" geführt. Eine nahezu unbegrenzte Informationsflut schlägt damit über unseren Köpfen zusammen, die wir selbst in ihrer Breite kaum mehr bewältigen können, geschweige denn ihrer Tiefe. Der Nutzen kollektiver Informationsvielfalt liegt auf der Hand (z.B. Wissenschaft, Presse, Wirtschaft), kann aber im Einzelfall die Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns überfordern, das nicht auf Multitasking eingerichtet ist. Bereits zwei gleichzeitige, unterschiedliche Informationsaufgaben (z.B. Fernsehen/ Internetsurfen) verändern das Bearbeitungsergebnis mit einem geringeren Lerneffekt. Das Gehirn schützt sich so vor einer unnötigen Überlastung der Langzeitspeicher und seiner begrenzten Energiespeicher. Der dauernde bange Blick ins Internet, um nur ja nichts zu versäumen, senkt nach Expertenmeinung die Hirnleistung sowohl im kognitiven, wie empathischen Bereich und macht uns zu Opfern von Fake News, Marktstrategen, Cyberkriminalität und schlimmstenfalls Mobbern.
Über den technologischen Fortschritt hinaus zeigt uns ein Blick auf die (unsere) Welt, dass wir vergessen haben, uns um sie zu kümmern.
Unermüdlich, und mit masochistisch anmutender Begeisterung sägen wir weiter an den Ästen, auf denen wir sitzen – wohl wissend, dass wir bald krachend in die Tiefe fahren („Haindling – Höhlenmalerei"), wenn wir nicht umzudenken lernen. Warum hören wir nicht auf mutige Wissenschaftler, die aus ihren Forschungen vor Ort berichten: Klimawandel, Ressourcenknappheit, 2030 bräuchten wir bereits zwei Erden zu ihrer Deckung, dramatisch rückläufige Biodiversität an Land und im Meer, Tierleid als unwürdiges Massenszenario, Müllberge, Verseuchung lebenswichtiger Luft- und Wasserräume, inflationäre Zahlen von Flug- und Schiffsreisen, Migration, Pandemien und, und, und... Unterstützt, ja regelrecht befeuert, wird die zukunftsgefährdende Entwicklung von einzelnen Führungsfiguren aus Politik und Wirtschaft, die vorbei an wissenschaftlicher Vernunft und empathischer Grundeinstellung ihren toxischen Narzissmus hinter Macht, Geld, Besitz und ideologischen Ansprüchen verstecken. Paradoxerweise finden selbst ihre hinterhältigsten Lügen durch ständige Wiederholung ihren Platz im Gehirn vieler Menschen.

 

Auf dem Weg zum Guten Menschen
„Es fängt bei dir an und kann die Welt verändern" – Dalai Lama.
Viele Menschen fühlen sich heute unbehaglich, merken, dass die Spur unseres Lebens so wie jetzt nicht mehr gerade weiterführen kann. Die zwei, nur scheinbar widersprüchlichen Grundvoraussetzungen menschlicher Dynamik sind ins Wanken gekommen: Geborgenheit und Freiheit, symbolisiert und engrammiert durch die enge Verbindung des Feten im Mutterleib und dem befreienden Austritt in die Welt bei der Geburt. Die Geborgenheit Heranwachsender leidet unter der wachsenden Zahl von Scheidungen, rückläufigen Eheschließungen, Zunahme von berufstätigen Alleinerziehenden, ambivalenter „Ping-Pong" Erziehung in Patchwork-Familien und nicht kind- sondern eigentumsgerechten Gerichtsbeschlüssen bei der elterlichen Trennung. Auch Kitas können mangelnde Nestwärme alleine nicht ersetzen. Im späten Kindesalter lässt sich der Drang nach Freiheit und Experimentierfreude nicht durch Videospiele kompensieren, schon gar nicht vom Typ der Ego-Shooter, die in die Sackgasse der Gewalt führen. Gleiches gilt für Drogenmissbrauch und Internetsucht. Ein immer gierigeres Belohnungssystem im Gehirn mit dem Ergebnis der Abhängigkeit unterdrückt die natürliche Abenteuerlust und Neugierde und hinterlässt Tristesse und sozialen Abstieg.
Auf dem Weg zu einem guten Menschen müssen wir uns und unseren Kindern ein stabiles Umfeld schaffen: Familie, Großeltern, Freunde, Kitas, Vertrauenslehrer, Sportvereine, Rotes Kreuz, Bergwacht, Alpenverein, Mitarbeit in Hilfsorganisationen, um nur einige zu nennen. Ähnlich einem Basislager beim extremen Höhenbergsteigen kann dieses Umfeld dann als Ausgangspunkt für Freiheit und neugierige Experimentierfreude dienen: sportliche Aktivitäten, künstlerische Expansion, Musizieren, Erfinden, aber auch Abenteuerunternehmungen im Gebirge und Wildwasser.
Der nächste Schritt auf dem Weg zu einem guten Menschen gestaltet sich schon wesentlich schwieriger. Manchem mag er sogar unmöglich erscheinen, weil hier Grenzen festgefahrener Wege überschritten werden müssen - nicht radikal, sondern konsequent. Wie mehrfach angeführt, sind es beständige Lernprozesse, die den inneren Kompass des Menschen formen. Bereits eingangs haben wir uns entschieden, dass wir den für einen guten Menschen halten, der würdevoll mit Mensch, Tier und Natur umgeht und damit seine eigene Würde bewahrt. Somit werden wir uns jetzt mit den dafür notwendigen Lernprozessen beschäftigen.
Während die Tiere schon bei der Geburt über ein fertiges (instinktives) Überlebensprogramm verfügen, wird der Mensch nur mit einer Grundausrüstung im Zentralnervensystem (Gehirn, Rückenmark) geboren, das durch entsprechende Reizgebung für das spätere Leben „angelernt" werden muss. Neugeborene Elefantenbabys können z.B. bereits nach wenigen Stunden laufen, währenddessen Menschenkinder erst mit knapp einem Jahr laufen lernen. Um uns als Menschen entwickeln zu können, benötigen wir eine beständige Reizeinwirkung. Unterschiedliche Reizqualitäten, ihre Intensität und Einwirkdauer bestimmen das Ergebnis. So ist jeder Mensch und jedes Gehirn einmalig! In seiner Rolle als soziales Wesen wird seine Entwicklung ganz wesentlich vom Umfeld geformt. Das Problem dabei ist, dass die Lerninhalte zunächst keiner „Selbstkontrolle" unterliegen. Sie können gut oder schlimmstenfalls böse sein, entsprechend auch das Ergebnis. Diese, dem Menschen eigene, lebenslange Anpassung des Gehirns an verschiedenste Einflussgrößen bezeichnet die moderne Neurobiologie als Neuroplastizität. Bereits 100 Jahre früher hat sie Wilhelm Busch mit empirischer Weisheit in seinen Reimen vorausgeahnt: „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt". Die Neuroplastizität des Gehirns ist damit der Schlüssel zum Schloss des guten Menschen. Jeder von uns kann es damit öffnen. Voraussetzung hierfür ist das beschriebene dynamische Fundament aus Geborgenheit und neugierstiftender Freiheit. Der wichtigste Schritt ist eine neue Gewichtung und Korrektur der Lernziele von Kindern, Eltern und Lehrern. Denn es stellt sich zunehmend heraus, dass eine Bildung, die sich einseitig mit kognitiver Informationsverarbeitung, wie z.B. den Herausforderungen technischen und digitalen Fortschrittes und wirtschaftlicher Gewinnmaximierung, beschäftigt, der überwiegenden Mehrheit der Menschen nicht automatisch Würde, Gesundheit und Glück schenkt. Im Gegenteil, bei Erwachsenen nehmen Stresserkrankungen, wie Burnout, psychovegetative Störungen, wie Schlaflosigkeit, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit, Zahl der Drogentoten, soziale Hilfsbedürftigkeit und Einsamkeit alarmierend zu. Bei Kindern sind es Internetsucht, Drogenexperimente, Bandenbildung, ADS/ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ohne und mit Hyperaktivität), Gewalt gegen sich („Ritzen") und andere, fürchterlicher Weise auch steigende Zahlen von Suizidversuchen, um nur einige Beispiele aufzuzeigen.
Was machen wir angesichts dieser Fehlentwicklungen falsch?
Es scheint, als hätten wir eine Lernqualität vernachlässigt: die Vermittlung von Empathie!
Viele erfolgreiche Manager, Geschäftemacher und „Global Player" – Firmenchefs halten die Empathie, das Mitfühlen mit Mensch, Tier und Natur, sogar für eine Luxusqualität, die für die Ausbildung ihrer Eliten kontraproduktiv ist. Ein fataler Irrtum, der sie vom guten Menschen weit entfernt, wie auch der unwürdige Umgang mit unserer Umwelt überdeutlich zeigt. Im pausenlosen „Netz-Gezwitscher" (Gossip) über Umsätze, Kurse, Transaktionen und „Tricks" haben sie vergessen, dass Empathie der Kit ist, der die Gesellschaft in all ihren Facetten zusammenhalten kann, ohne die Würde des Einzelnen zu verletzen. Noch sind wir weit davon entfernt. Doch können wir mit simplen Beispielen aufwarten, wie Empathie „funktioniert". Schauen sie auf ihrem Spazierweg begegnenden Menschen ins Gesicht und lächeln sie wortlos an. In den meisten Fällen wird ihr Lächeln von Fremden erwidert, die ansonsten mit ernstem Gesicht an ihnen vorbeigegangen wären. So simpel funktionieren die Spiegelneuronen im Gehirn. Etwas komplizierter wird es, wenn wir den Lernerfolg einer Schulklasse betrachten, die bei gleichem Stoff einmal von einem offensichtlich gestressten und lamentierenden Lehrer, einmal von einem coolen, positiv geladenen Lehrer unterrichtet wird. Die Ergebnisse des freudig vermittelten Lehrstoffes sind deutlich besser. Die empathische Reaktion der Spiegelneuronen erhöht die Lernbereitschaft signifikant. Diese Botschaft gilt auch für alle Lernprozesse in der Arbeit, im privaten Bereich und Sport. Wie wir wissen, erfolgt die „Initialzündung" der empathischen Entwicklung bereits im 2.-4. Lebensjahr. Ganz entscheidend sind hier feste Bezugspersonen, wie Eltern, Großeltern, Pflegeeltern und Erzieherinnen in der Kindertagesstätte. Die Kinder einfach an dauernd wechselnde Personen abzugeben, reicht nicht. Hingegen kommt dem Umgang mit harmlosen Haustieren und dem Spielen auf Naturböden und im Wald (später Waldkindergarten) besonders positive Bedeutung zu, um ein Gefühl für Tiere und Natur zu entwickeln.
Die nächste große Herausforderung auf dem Weg zur Empathie ist die Zeit um die Pubertät. Die Erziehungswelt scheint in einem vermeintlichen Chaos zu versinken. Trotzige Ablehnungs- und Umorientierungsprozesse sind auf physiologische Umbauten im Gehirn der Jugendlichen zurückzuführen. Neue Vernetzungsmuster entstehen, alte werden abgebaut. Das Gehirn entledigt sich unnötigen Ballasts und öffnet sich gleichzeitig für neue Einflußgrößen. Hierin besteht auch die große Chance zur Empathieentwicklung, die von Eltern und Schulen genutzt werden sollte, z.B. sich für eine Ernährung unter Einhaltung des Tierwohls einzusetzen. Denn erschreckend grausame Bilder aus Transport-, Zucht-, Mast- und Schlachtbetrieben lassen am primär guten Menschen zweifeln und vermitteln uns einen nie geglaubten Einblick in die Profitgier von Menschen, für die die qualvollen Schreie und das Dahinsiechen ihrer „Ware" nur schwarze Zahlen auf dem Konto sind.
Was Natur und Klima angeht, macht es Hoffnung, dass bereits ein „Umlernprozess" eingesetzt hat, der nicht zuletzt durch die beharrliche autistische Qualität einer Greta Thunberg in Gang gekommen ist. Die in der Pubertät angestoßenen Zweifel am Klimaverhalten der Industrienationen haben hier und in der Fridays for Future Bewegung ihren Niederschlag gefunden. Während etablierte (empathieverarmte?) Politiker die Jugendlichen des Schulschwänzens bezichtigen und Gretas Wutrede in der UN-Klimakonferenz als respektlos kritisieren, schließen sich bereits Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen solidarisch zu Scientists for Future zusammen. Der Stein des Lernens ist damit trotz rigider politischer Abhängigkeitsverhältnisse ins Rollen gekommen. Wird seine Wucht die klimatischen Veränderungen mit steigender Erderwärmung, schmelzenden Polen, Überschwemmungen von Siedlungen, Waldbränden mit dem Untergang ganzer Tierwelten, Veränderung der Meeresströmungen, Wetterkatastrophen u.v.m. noch retten können? Nur Lernprozesse hin zu einem guten Menschen spenden Hoffnung, bevor die unumkehrbaren Kipp-Punkte erreicht sind. Empathisches Lernen hat seinen Schwerpunkt in Kindheit und Jugend. Wir müssen es auch als Erwachsene fortführen. Eine dynamische Verbindung von empathischem und kognitivem Lernen wird uns helfen, die Probleme der Zukunft zu bewältigen.
Wir sind nun am Ende unseres Exkurses zum guten Menschen. Sicher gäbe es noch vieles zu schreiben, aber schlussendlich geht es nur um Kernaussagen zum guten Menschen, der wohl jeder gerne sein möchte und als unsere Zielvorstellung existiert. Immer wieder werden Menschen wie Donald Trump unseren Weg kreuzen, wir sollten sie anlächeln.
Luk Geiger

 

 

Literaturhinweise:
Bartneck, Ch.; Lütge, Ch.; Wagner, A.; Welsh, S.; Ethik in KS und Robotik, Hanser 2019
Breithaupt, F.; Die dunklen Seiten der Empathie, Suhrkamp 2017
Geiger, V.L., Kunst der Bewegung – so funktioniert der Körper, Rosenheimer 2019
Hüther, G.; Würde, Pantheon 2018
Dalai Lama; Empathie, Herder 2017
Miranda de, L.; Künstliche Intelligenz & Robotik, Librero 2019
Sen, A.; Die Idee der Gerechtigkeit, C.H.Beck 2010
Zaboura, N.; Das empathische Gehirn, VS RESEARCH 2009